Der Herzjubel von Leon Goretzka (l) war ein EM-Moment mit ganz viel Symbolkraft. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Lukas Barth/Pool EPA/dpa)

Die Daumen und Zeigefinger zu einem Herzen vor der Brust vereint. Der Blick fest in Richtung des schwarzen Mobs auf der Tribüne. Seht her, Liebe lässt sich nicht verbieten!

Mit seinem Torjubel beim 2:2 im Gruppenspiel gegen Ungarn vor fast genau einem Jahr sorgte Leon Goretzka für den großen emotionalen EM-Moment. Am Samstag (20.45 Uhr/RTL) geht es für die Fußball-Nationalmannschaft in Budapest wieder gegen Ungarn und natürlich wurde Goretzka schon auf die über die große sportliche Bedeutung seines Treffers hinaus bewegende Szene angesprochen. Sie war schließlich das telegene Symbol einer Generation mündiger Fußball-Profis, die gesellschaftliche Themen weder ignoriert, noch ignorieren kann.

«Das kam schon so ein bisschen aus dem Bauch raus, da hat auch vieles zusammengepasst, auch mit dem ganzen Thema davor, ob wir die Allianz Arena in den Regenbogenfarben anstrahlen dürfen oder nicht. Deswegen hat das ja natürlich sehr gut reingepasst», sagte Goretzka vor dem Abflug der DFB-Elf am späten Freitagnachmittag nach Budapest.

Auseinandersetzung mit sozialen Themen

Ungarn und seine damals in München unangenehm agierenden Fans stehen weiter für die reaktionären Kräfte in der sozialen Fußball-Welt. Englands Spieler wurden vergangene Woche für ihren Kniefall gegen Rassismus dort lautstark ausgebuht, obwohl nach einer UEFA-Sperre doch überwiegend nur Kinder im Stadion sein sollten.

Für die deutschen Fußball-Stars ist die offene Auseinandersetzung mit sozialen Themen längst Common Sense – die Öffentlichkeit erwartet sie sogar, die Fans finden sie gut oder akzeptieren sie zumindest. Goretzkas Tor wurde vom DFB-Fan-Club zum Tor des Jahres 2021 gewählt.

«Die Anforderungen der Gesellschaft sind gestiegen, dass man sich mit gewissen Themen beschäftigen muss, was in den 60er und 70er Jahren noch kein großer Aufreger war», sagte Oliver Bierhoff. Eine Haltung nach dem Motto: «Das interessiert mich nicht, ich spiele Fußball, das geht nicht mehr», sagte der DFB-Direktor.

Viele Aktionen

Die Nationalmannschaft führt ihr sportliches Geschäft längst unter einem gesellschaftlichen Brennglas. Sie ist Projektionsfläche für fast alle Trends und Themen. Die Corona-Pandemie mit vielen komplizierten und kontroversen Facetten war da ein Beispiel. Rund um den Juni-Viererpack der DFB-Elf in der Nations League reihen sich Aktionen nun förmlich aneinander.

In Herzogenaurach liefen Thomas Müller und Co. mit Mitarbeitern von Sponsor Adidas beim «Run for the Oceans» für saubere Meere. Man habe «Selfies gemacht, Small Talk gemacht», erzählte Goretzka. Per Podiumsdiskussion folgte eine zweite Aufklärungsstunde von Experten über die schwierige Menschenrechtslage im WM-Gastgeberland Katar. Goretzka saß mit Müller, Joshua Kimmich und Serge Gnabry in der ersten Reihe.

Gemeinsames Knien

Unter Applaus der Zuschauer knieten dann die DFB-Stars am Dienstag gemeinsam mit den Engländern vor ihrem Spiel in der Allianz Arena. Und während der Partie wurde auf der Anzeigetafel auch noch das in Regenbogenfarben leuchtende Stadion von außen gezeigt. Mit einem Jahr Verspätung bekam auch dieses Symbol für freie Liebe nach dem scharf kritisierten UEFA-Verbot während der EM seine Strahlkraft.

Bei seinem Pressekonferenzauftritt vor dem Nations-League-Auftakt ging die erste Frage an Goretzka fast schon unausweichlich nicht um Form und Fitness im DFB-Trikot, sondern um sein «11-Freunde»-Cover im Schiedsrichter-Look. Mehr Respekt für Referees sei ihm ein Anliegen, sagte der 27-Jährige.

Droht jetzt – ein halbes Jahr vor der Katar-WM – womöglich eine Überdosis an sozialem Gewissen? «Ich werbe aber auch für Verständnis, dass es junge Menschen sind. Auch Fußball-Profis sind ein Querschnitt der Gesellschaft. Es gibt Menschen, die sich mehr interessieren und andere eher zurückhaltender sind», sagte Bierhoff.

Gefeierter Herzjubel

Goretzkas Herzjubel wurde auch hymnisch gefeiert, weil er spontan und authentisch war und nicht einer der Imagekampagnen eines sonst in Skandale verstrickten Verbandes und seiner Funktionärselite entsprang. «Wir sind uns bewusst, dass wir eine große Reichweite haben», sagte Goretzkas Bayern- und DFB-Kollege Kimmich.

Bierhoff macht schon seit Monaten den Spagat zwischen Sport und Politik. «Es gibt nicht diese eine Wahrheit», sagte der DFB-Direktor beim Katar-Workshop. Der aus den USA per Video zugeschaltete Thomas Hitzlsperger, inzwischen als DFB-Botschafter für Vielfalt aktiv, sprach von einem «Dilemma».

Besonders für die Spieler, von denen mehr verlangt werde als von mit Katar viel mehr verflochtenen Wirtschaftsunternehmen. «Ich würde an die Spieler appellieren, nur über die Dinge zu reden, über die sie Bescheid wissen», sagte Hitzlsperger, der als bislang einziger Ex-Nationalspieler seine Homosexualität öffentlich gemacht hatte.

Goretzka schien die aufkommende Erinnerung an seinen Herzjubel fast ein wenig unangenehm. «Für mich war es die schönste Erinnerung, dass ich ein schönes Tor geschossen habe, das uns in die nächste Runde gebracht hat», sagte er. Am Samstag in Budapest ist laut Bierhoff kein Kniefall geplant.

Von Arne Richter, Jan Mies und Klaus Bergmann, dpa

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