Beim Apfelkuchen-Backen mit den Enkeln und mit Yoga-Übungen im Weihnachtsurlaub hat Hansi Flick die schlimmsten Katar-Erinnerungen verarbeitet. Vor dem Neustart der Fußball-Nationalmannschaft hat der Bundestrainer die große Hypothek des WM-Scheiterns aber noch nicht abgelegt.
Der Blick geht dennoch nach vorn zur Heim-EM 2024 und Flick verspricht eine DFB-Elf, die wieder für Fan- und Fußball-Freude sorgt, auch wenn der Titelgewinn nicht als Ziel hinausposaunt wird.
Die Schuldfrage für den Gruppen-K.o. umtreibt Flick weiterhin und eine große Lehre ist für den 58-Jährigen: Es muss wieder um Fußball gehen, nicht um Politik und Gesellschaftsthemen. «So viel Druck darf es nie mehr geben – weder auf einen einzelnen Spieler noch auf eine Mannschaft», forderte Flick in einem Interview der «Süddeutschen Zeitung» in Erinnerung an die Debatte um die One-Love-Kapitänsbinde.
Flicks große Hoffnung heißt Völler
Einen finalen Haken hat Flick an das WM-Trauma eben noch nicht machen können. Der Bundestrainer weiß: Das wird nur mit guten Ergebnissen funktionieren, auf dem Platz. «Das Wichtigste ist, dass wir guten Fußball zeigen, leidenschaftlichen Fußball. Wenn der Fan merkt, dass wir für Deutschland alles geben und mit Herz spielen, kann die Stimmung schnell wieder umschwingen» sagte Flick in einem Interview dem «Kicker». Große Hoffnungen setzt er in den neuen DFB-Sportdirektor Rudi Völler – als Puffer gegen zu viel öffentlichen Wirbel.
Wenn der Bundestrainer am Freitag seinen ersten Kader für das Länderspieljahr mit den Partien am 25. März in Mainz gegen Peru und drei Tage später in Köln gegen die andere WM-Enttäuschung Belgien benennt, will er einfach wieder Fußball-Trainer sein. Und die ersten Entscheidungen sind schon gefallen. Bewährte Kräfte bekommen eine Pause. Allen voran Thomas Müller. Der Bayern-Routinier wird in dieser Saison – also bei den Terminen im März und Juni – nicht dabei sein.
«Das ist mit ihm besprochen, ich möchte jüngeren Spielern bei der Nationalmannschaft eine Chance geben», sagte Flick. Frühestens im September wird der Bayern-Routinier kurz vor seinem 34. Geburtstag demnach in den DFB-Kreis zurückkehren, sofern Flick dann Bedarf sieht. Die Absprache bedeute keinesfalls, «dass seine DFB-Karriere beendet ist und er für die EM keine Rolle spielt. Warum sollte ich so einem Spieler für immer die Tür zumachen?», sagte Flick. Routinier Ilkay Gündogan (32) von Manchester City wird dem Vernehmen nach zumindest im März nicht zum Aufgebot gehören.
Müller reagiert gelassen auf die Auszeit «Wir schätzen uns und bleiben auch weiterhin in einem guten Austausch. Dann wird man sehen, wie es weitergeht», schrieb der Routinier des FC Bayern München am Montag bei Instagram. Er wolle die Pause in der kommenden Woche nutzen, um sich «optimal» auf die «anstehenden Aufgaben» beim Rekordmeister vorzubereiten. Nach einem Konflikt klingt das alles also nicht.
Wer steht im DFB-Tor?
Auch Kapitän Manuel Neuer bekommt keinen Freifahrtschein. Nach dem noch ausstehenden Comeback nach seinem Beinbruch muss sich der Bayern-Schlussmann, der Ende des Monats seinen 37. Geburtstag feiert, dem Konkurrenzdruck stellen. «Der Leistungsgedanke steht im Vordergrund. Es ist nichts in Stein gemeißelt – Manu weiß das», sagte Flick. Von einer Rückkehr Neuers geht der Bundestrainer aber aus. «Ich bin überzeugt davon, dass er an seine Leistungsgrenze kommt, wenn er wieder zu hundert Prozent fit wird», betonte Flick. Vertreter Marc-André ter Stegen (30) vom FC Barcelona wittert wieder mal seine Chance.
Was Vorgänger Joachim Löw im Frühjahr 2019 nach dem ersten WM-Desaster mit der Ausmusterung von Müller, Mats Hummels und Jérôme Boateng mit Getöse versuchte – nämlich jüngere Kräfte in die Verantwortung zu schieben – macht Flick nun mit einer Schontaktik. Namen von potenziellen Neulingen nannte er noch nicht. Klar ist aber: Jetzt muss die Generation um Joshua Kimmich (28), Leon Goretzka (28) und Antonio Rüdiger (30) endlich Führungs- und Leistungsstärke zeigen.
Besonders im Blick hat Flick auch Kai Havertz (23) vom FC Chelsea, dem er große Dinge zutraut – gerade auf der offensiven Müller-Position. «Kai ist ein genialer Fußballer, sehr reflektiert und in seiner Persönlichkeit sehr erwachsen. Unsere Aufgabe ist, dabei zu helfen, dass solche Spieler dann den nächsten Schritt machen und auch in der Nationalmannschaft Verantwortung übernehmen», sagte Flick. In Jamal Musiala (20) und Rückkehrer Florian Wirtz (19) sieht der DFB-Chefcoach zudem zwei große Trümpfe für die Zukunft.
Flick: «Ein bisschen Demut tut derzeit ganz gut»
Für baldige Titelträume sieht Flick jedoch noch keinen Anlass. «Wenn Sie nach unserer Zielsetzung für die EM fragen – ich gebe in dieser Phase nicht den Europameistertitel als Ziel aus. Dafür gibt es keine Garantie. Garantieren können wir nur, alles dafür zu tun, optimal vorbereitet in dieses Turnier zu gehen», sagte er. Augenmaß in der Betrachtung der sportlichen Ambitionen sei ratsam. «Natürlich üben wir den Sport aus, um erfolgreich zu sein. Und ich habe grundsätzlich immer hohe Ziele. Aber ein bisschen Demut tut derzeit ganz gut. Wir müssen zunächst unsere Basisaufgaben erledigen», forderte Flick.
Zu diesen Basisaufgaben gehörte für ihn auch die Aufarbeitung der Ereignisse im Emirat am Golf. Eigene Fehler wollte Flick nicht verschweigen. Die defensive Spielweise habe er den Spielern nur «in der Theorie» vermitteln können. «Was die Automatismen in der Viererkette angeht, müssen wir ab sofort klare Schwerpunkte setzen», kündigte Flick an. In diesem Jahr wolle er in den Länderspielen bis Juni auch experimentieren, möglicherweise auch Spieler einsetzen, die in ihren Vereinen keine Stammspieler seien. Danach gelte es ab September, System und Formation für die Heim-EM im Sommer 2024 einzuspielen.
Zu seinem persönlichen WM-Verarbeitungsprogramm gehörte die Suche nach innerer Einkehr. «Morgens in Ruhe Atemübungen zu machen, statt aufs Handy zu schauen – das kann ich nur empfehlen», sagte der Bundestrainer, der sich zur besseren Abschottung gleich noch eine neue Handynummer zulegte. Ansonsten half die Familie. «Apfel-Streuselkuchen-Backen mit den Enkeln – da vergisst man alles, was einen bedrängt», sagte Flick.