Ganz Neapel erstrahlt in Weiß und Blau und fiebert einer gigantischen Fußball-Party entgegen.
Dass ein famoser SSC Napoli diese Serie-A-Saison mit dem Titel krönt, daran zweifeln selbst die abergläubischsten Fans am Fuße des Vesuvs nicht mehr – auch nicht nach der unerwarteten 0:4-Abreibung gegen Titelverteidiger AC Mailand. Der Vorsprung auf Platz zwei und Lazio Rom beträgt zehn Spiele vor Saisonende 16 Punkte.
An jeder Straßenkreuzung dieser verrückten Hafenstadt werden Fahnen, Wimpel und andere Fanartikel mit Symbolen zur dritten Meisterschaft angeboten – in einigen Wochen dürfte es so weit sein. «Und dann drehen hier alle durch», sagt Vereinspräsident Aurelio De Laurentiis. «Aber eigentlich sind schon jetzt alle verrückt geworden.»
Im Herzen Neapels, dem einst berüchtigten Spanischen Viertel, haben Leute mannsgroße Pappfiguren auf die Straße gestellt. Mit Torjäger Victor Osimhen, dessen Teamkollegen oder auch Erfolgstrainer Luciano Spalletti können Tifosi dort Selfies machen. Über den Köpfen wehen Napoli-Flaggen zwischen Wäscheteilen, die von den Balkonen hängen.
Maradona stets präsent
Nur wenige Schritte entfernt, ganz oben an der Via Emanuele de Deo, ist der jüngste Stadtheilige mit einem riesigen Wandgemälde verewigt: Diego Maradona. Dieser so begnadete wie selbstzerstörerische Weltstar hatte Napoli 1987 und 1990 zur Meisterschaft geführt. Es waren im ewigen Wettstreit mit den reichen, verhassten Nordclubs aus Mailand und Turin Glücksmomente, die weit über den Fußball hinausgingen.
Zwar vergleichen heute manche die aktuelle Mannschaft mit jener von damals. Shootingstar Chwitscha Kwarazchelia, den Napoli in der georgischen Liga aufgestöbert hatte, wird etwa von Fans schon «Kwaradona» gerufen. Aber einen Heiligenschrein mit einer echten Reliquie gibt es in Neapel bislang nur von Maradona.
In der kleinen Bar Nilo hat Besitzer Bruno Alcidi vor einen Mini-Altar eine Haarlocke drapiert, von der er behauptet, sie 1990 in einem Flugzeug auf dem Sitzplatz von Maradona entdeckt und mitgenommen zu haben. Der Barkeeper lächelt, als ein Touristenführer zwei Gäste vor dem skurrilen Schrein fotografiert.
«Scudetto» zum Greifen nah
Natürlich ist auch der Mann hinter dem Tresen Napoli-Fan, jeder hier fiebert mit diesem Team. Dabei fürchtet man gerade in der Stadt in Kampanien doch so die «Scaramanzia», jene Art Aberglaube, wonach Dinge just dann nicht eintreten, wenn man von ihnen spricht. Noch im Winter hätte niemand in Neapel das Wort «Scudetto», also den Gewinn der italienischen Meisterschaft, in den Mund genommen.
Dann aber zog der Club dank frischem Offensivfußball in der Tabelle davon. «Und jetzt kommt uns auch die Scaramanzia nicht mehr in die Quere», sagt der Barkeeper im Nilo, als er gerade zwei Espressi macht, «auch wenn die Clubs im Norden alle Götter auf ihrer Seite haben». Er reibt dabei Zeigefinger und Daumen aneinander, meint also weniger die himmlischen und mehr die irdischen, finanziellen Götter.
Die inzwischen von ausländischen Investoren übernommenen Mailänder Vereine Inter und AC sowie Juventus Turin, das der Agnelli-Familie gehört, sind in Neapel verhasst. Dass Juve in dieser Serie-A-Saison wegen Finanztricksereien 15 Punkte abgezogen wurden, sorgte für Genugtuung.
Wenige Schritte von der Bar Nilo entfernt, im Kloster zur Heiligen Maria von Jerusalem, hat Schwester Rosa Lupoli Besseres zu tun, als sich über Strafen gegen Juventus aufzuregen oder zu freuen. Obwohl sie und ihre Mitschwestern in Klausur und damit weitgehend isoliert von der Außenwelt leben, verfolgen sie die Spiele von Napoli vor allem im Radio regelmäßig mit. «Das war die Hand Gottes», sagte Schwester Rosa der Zeitung «Il Mattino» jüngst zum Höhenflug des SSC. «Natürlich hatten wir Hilfe von oben. Mein Chef hat sich gekümmert.»
Auf dem Platz tun sich in dieser Saison viele hervor: vom einst in Wolfsburg gescheiterten und nun von Top-Clubs umworbenen Osimhen über Dribbelkünstler Kwarazchelia bis hin zu Abwehr-Entdeckung Min-Jae Kim oder Spielmacher Stanislav Lobotka. In der Champions League entzauberten die vermeintlichen No-Names schon den FC Liverpool, Ajax Amsterdam und zuletzt Eintracht Frankfurt.
«Wir haben etwa 50 Spiele im Jahr und erleben diese gerade absolut intensiv», schwärmt Clubchef De Laurentiis. «Es ist, als ob man 50 Mal Liebe macht mit der schönsten Frau der Welt. Nicht schlecht, oder?» Und der Höhepunkt, also die Meisterparty, steht ja erst noch aus. Der Präsident sagt: «Da könnten dann zwei oder drei Millionen Leute beim Feiern dabei sein.» In Neapel leben eine Million Menschen.
Sicherheitsbehörden in Alarmbereitschaft
Die Vorbereitungen der Sicherheitsbehörden laufen bereits – nach den Ausschreitungen mit Frankfurt-Anhängern fürchten einige, dass eine XXL-Party die ohnehin verrückte Stadt komplett ins Chaos stürzt.
Zu allem Überfluss gibt es Zoff zwischen den organisierten Fans und De Laurentiis, einem Filmproduzenten aus Rom. Dieser wolle statt echter Tifosi ein Operettenpublikum im Stadion, kritisieren die Ultras. Weil zudem die Tickets für das Viertelfinale in der Champions League – wo Napoli auf Milan trifft – verteuert wurden, protestieren die Ultra-Verbände seit Wochen gegen De Laurentiis.
Am Sonntagabend verzichteten sie im Stadion auf Gesänge und Fahnen, die Partie fühlte sich wie ein Auswärtsspiel an. Prompt kam Napoli gegen den AC Mailand mit 0:4 unter die Räder. Ein unbedeutender Ausrutscher, glauben sie in Neapel, die Party-Planungen laufen ganz normal weiter. Nationalspieler und Kapitän Giovanni di Lorenzo sagt: «Das ändert nichts auf unserem Weg zur Meisterschaft.» Die größte Fußballfeier seit Maradonas Meisterstück 1990, sie kann kommen.