Bundestrainer Julian Nagelsmann steht mit Blick auf die Heim-EM unter Erfolgsdruck. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Christian Charisius/dpa)

In der Silvesternacht dürfte Julian Nagelsmann das alte Jahr nur zu gerne hinter sich gelassen haben. Rauswurf beim FC Bayern, Fehlstart als Bundestrainer – 2024 kann für ihn eigentlich alles nur besser werden. Oder nicht?

Nach wie vor sehen die DFB-Bosse den 36-Jährigen als Glücksfall auf dem Weg zur EM im eigenen Land an. Und Nagelsmann selbst begreift das Heimturnier als geradezu historische Chance für das Land, die Spieler, den zum Erfolg verdammten Verband – und nicht zuletzt für sich selbst.

«Es ist ein unglaubliches Privileg, eine Heim-EM absolvieren zu dürfen», sagte Nagelsmann beim Ausblick auf 2024. Der Bundestrainer mit dem Kurzzeitvertrag bis Juli – und ohne jede Turniererfahrung – weiß spätestens seit den heftigen Wirkungstreffern in den Testspielen gegen die Türkei (2:3) und Österreich (0:2) im November, welche Fallhöhe das EM-Projekt gerade auch für ihn persönlich in sich birgt. Die Extreme lauten: Gefeierter und umworbener Turnier-Coach – oder nur der nächste, im Eiltempo gescheiterte Bundestrainer?

EM-Projektleiter mit Lösungsansätzen

«Die Entlassung bei Bayern ist schon ein Tag, der in Erinnerung bleibt», sagte Nagelsmann zuletzt im ZDF-«Sportstudio» zum Tiefpunkt 2023. Ansonsten war er wortreich darum bemüht, den zweifelnden Fans in Deutschland zu versichern, als EM-Projektleiter für alles Lösungen parat zu haben. Ein Kernsatz lautete: «Ich wusste, dass es schwierig ist, dass es eine große Aufgabe ist, aber auch eine Aufgabe, die man meistern kann.»

Die Herkulesaufgabe sieht etwas mehr als 160 Tage vor dem EM-Eröffnungsspiel am 14. Juni in München gegen Schottland so aus: Die DFB-Auswahl steht zum Start ins Turnierjahr am Nullpunkt. Es gibt kein personelles Gerüst, keine Spielidee, kein Selbstverständnis durch Siege – und schon gar keine Euphorie im Gastgeberland mit Blick aufs eigene Team.

Die nach dem Trainerwechsel von Hansi Flick zu Nagelsmann schon wieder arg nervöse DFB-Führung muss Durchhalteparolen verkünden. «Die Fieberkurve wird steigen», sagte Präsident Bernd Neuendorf zur EM-Vorfreude. Klar, die Stadien werden ausverkauft sein. Aber erleben 18 Jahre nach der WM 2006 diesmal nur die vielen Gäste-Fans ein neues Sommermärchen in Deutschland?

Schwere Testgegner

Sportdirektor Rudi Völler, der weiterhin als Teamchef-Notfalllösung durch den DFB-Orbit kreist, hofft unverdrossen auf den Stimmungsschub, wenn die lange Länderspielpause mit den Testspielen Ende März in Lyon gegen Frankreich sowie in Frankfurt gegen den Erzrivalen Holland endet. «Wir wollen dann etwas entzünden», kündigte Fan-Liebling Völler (63) an. Auch Nagelsmann wertet die Partien als seine Chance. Es sind aber zwei Prestigeduelle mit großen Risiken und Nebenwirkungen. «Wir wissen, dass es so nicht reicht gegen die Top-Nationen», hatte Rückkehrer Mats Hummels nach den letzten Testspiel-Flops festgestellt.

Die Kernfrage lautet. Wie reagiert Nagelsmann? Gelingt ihm noch rechtzeitig der Rollenwechsel vom Vereins- zum Nationaltrainer? Und wie viele Retro-Maßnahmen ergreift er noch? Zurück zu den deutschen Tugenden? Noch mehr Weltmeister von 2014 dazuholen? Hummels (35) und Thomas Müller (34) sind schon da. Der bald 38 Jahre alte Manuel Neuer soll nach seinem langwierigen Beinbruch im März wieder im Tor stehen. Und sogar einem Comeback von Toni Kroos, der am Donnerstag 34 wird, bahnte Nagelsmann den Weg.

Real-Madrid-Routinier Kroos, der 2021 nach 106 Länderspielen seinen Ruhestand als Nationalspieler antrat, als EM-Heilsbringer? «Deutschland hat viele starke Mittelfeldspieler. Aber ich kann mir vorstellen, dass Toni Kroos mit seiner Routine, seiner Cleverness, seiner Einfachheit und seinem Organisationstalent der Mannschaft guttun würde», sagte Ottmar Hitzfeld, der ehemalige Meister-Trainer des FC Bayern München und von Borussia Dortmund, zum Jahreswechsel der Deutschen Presse-Agentur.

«Eine sehr gute Meinung» hat der frühere Schweizer Nationalcoach auch von Nagelsmann, dem er den Turnaround 2024 zutraut. «Ich glaube, dass die Experimentierphase vorüber ist und dass er im nächsten Jahr vor allem aufs Einspielen setzen wird. Ich bin überzeugt von ihm. Er ist ein Stratege, der die Mannschaft gut vorbereiten wird», meint Hitzfeld (74).

EM-Gegner: Schottland, Ungarn, Schweiz

Schottland, Ungarn, Schweiz – so lauten die Gegner, gegen die sich das DFB-Team als EM-Gastgeber in Gruppe A durchsetzen muss. «Deutschland ist und bleibt der Favorit», glaubt Hitzfeld. Nagelsmann will in der wenigen Zeit, die ihm zuvor bleibt, «etwas an der Kader-Struktur ändern». Mehr Arbeiter statt offensiver Feingeister heißt die Losung: «Der Vorteil als Nationaltrainer ist, dass man sich den Kader immer wieder neu zusammenstellen kann.»

27 Spieler hat Nagelsmann ausprobiert in den vier Partien gegen die USA (3:2), Mexiko (2:2) sowie bei den Niederlagen gegen die Türkei und Österreich. Vier weitere Probeläufe bleiben ihm noch. «Es sind andere Dinge gefragt auf dem Status, wo wir gerade sind», befand er. Die Herangehensweise im neuen Jahr soll lauten, «sich über Arbeit in Spiele zu kämpfen». Dazu kommen Positionsverschiebungen: Joshua Kimmich nach rechts hinten, Kapitän Ilkay Gündogan im Mittelfeld weiter nach vorne vor «einen Sechser-Block, der defensiv denkt».

Nagelsmann kündigte einen entschlussfreudigen und konsequenten Kurs an. «Es gibt sehr viele Entscheidungen zu treffen, die mich umtreiben werden», sagte er mit Blick auf die kommenden Monate. Zurück zur Einfachheit könnte der Königsweg sein. Eine Einfachheit, wie sie von den Nationalspielern unisono nach dem 2:1 gegen Frankreich unter Interimscoach Völler unmittelbar nach der Flick-Ablösung im September hervorgehoben wurde.

Drei vermurkste Turniere unter Joachim Löw (WM 2018, EM 2021) und Flick (WM 2022) liegen hinter dem DFB. Stets war das Auftaktspiel der Anfang vom frühen Ende. WM 2018, 0:1 gegen Mexiko. EM 2021, 0:1 gegen Frankreich. WM 2022, 1:2 gegen Japan. Darum sagte Turnierveteran Neuer: «Wir wollen einen vernünftigen Start ins Turnier – ohne viel Stress.»

Von Klaus Bergmann und Nils Bastek, dpa

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