Setzt in der deutschen Nationalmannschaft auf viele neue Gesichter: Bundestrainer Julian Nagelsmann. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Eva Manhart/apa/dpa)

Bei ihrer Rückkehr in die Fußball-Nationalmannschaft werden sich Manuel Neuer und Toni Kroos ganz schön umschauen müssen. Hier neue Gesichter, da neue Gesichter und dazu auch noch der relativ neue Bundestrainer Julian Nagelsmann, der mit einer historisch einmaligen Radikal-Aktion Hierarchien in Deutschlands wichtigstem Fußball-Team zu einem pikanten Zeitpunkt mehr oder weniger auflöst. Keine 100 Tage vor dem Anpfiff der Heim-Europameisterschaft wird bei der DFB-Elf wie von Nagelsmann schon angedroht tatsächlich alles «auf Null» gestellt. 

Ein ganzer Neulingsschwarm rein, ein gutes Dutzend EM-Aspiranten inklusive Mats Hummels und Leon Goretzka raus? Das sich abzeichnende Ausmaß der personellen Einschnitte wird Nagelsmann erklären müssen, wenn er am Donnerstag (14.00 Uhr) – exakt drei Monate vor dem Eröffnungsspiel in München gegen Schottland – auf dem Frankfurter DFB-Campus seinen über 20 Mann starken Kader für den symbolkräftigen März-Doppeltest verkündet. 

Die letzten Härtetests mit den Klassikern bei Vize-Weltmeister und Turnier-Topfavorit Frankreich am 23. März in Lyon sowie drei Tage später gegen Erzrivale Holland macht Nagelsmann zu einem pikanten Kandidaten-Roulette. Mit ungewissem Ausgang. 

Völler beobachtet die Lage

Niederlagen würden Nagelsmann selbst in Bedrängnis bringen. Die Erinnerungen an die prekäre Stimmung nach dem 1:4-Desaster in Italien vor der Heim-WM 2006 wären schnell wieder da. «Der Bundestrainer hat sich seine Gedanken gemacht bei seiner Nominierung», sagte Sportdirektor Rudi Völler, der die Entwicklungen genau im Blick hat. 

Vorgewarnt waren alle, auch die Rio-Weltmeister Neuer und Kroos, als Nagelsmann nach den ernüchternden wie demütigenden Niederlagen gegen die Türkei (2:3) und Österreich (0:2) gravierende Veränderungen erstmals ankündigte. Jetzt wird es konkret. Mehr als die Hälfte der Kadermitglieder vom November könnte diesmal zuschauen müssen. 

Die drei Stuttgarter Waldemar Anton, Maximilian Mittelstädt und Deniz Undav sowie die neue Münchner Sechser-Hoffnung Aleksandar Pavlovic wurden vorab in einem medialen Info-Wettbewerb schon als Neulinge im Teamkreis kolportiert. Ob in Frankfurts Robin Koch oder Debütant Jan-Niklas Beste vom 1. FC Heidenheim womöglich noch weitere Akteure ohne maßgebliche internationale Meriten eingeladen werden, fällt da fast schon nicht mehr ins Gewicht. Nie wurde die Nationalmannschaft so kurz vor einem großen Turnier – noch dazu als Gastgeber – so durchgeschüttelt. 

Prominente Streichliste

Für das Teamgefüge möglicherweise gravierender als die vielen Neulinge, die für ihre EM-Chance einmal vorspielen dürfen, ist die prominente Streichliste, die neben Goretzka, Robin Gosens oder Kevin Trapp angeblich auch einen kompletten Dortmund-Block um Niklas Süle und Hummels umfassen könnte. Warnschuss oder DFB-Aus? Diese Interpretationen stehen im Raum.

Nagelsmanns Botschaft ist aber schon eindeutig: Niemand kann und soll sich sicher sein. Das «Hier und Jetzt» als Leistungs-Mantra hatte er schon nach seinem Dienstantritt im September postuliert. Jetzt treibt er seine Liebe für das Momentum auf die Spitze. Der Münchner Rollentausch mit Pavlovic, der auch für Serbien spielen könnte, anstelle von Goretzka verdeutlicht dies. 

Aber ausgerechnet Hummels – im März 2019 vom damaligen Bundestrainer Joachim Löw schon einmal geräuschvoll aussortiert und von Nagelsmann schnell als Königspersonalie mit dem zweiten Comeback reaktiviert. Denkzettel oder Abstellgleis? Rast der Bundestrainer im Schlingerkurs in den EM-Countdown? Den 35 Jahre alten BVB-Verteidiger hatte er doch zum Amtsantritt als Führungsfigur gepriesen, der seine «Ideen verstehen und weitertragen» könne. 

Rückkehrer Kroos als Faktor

Diese Aufgabe kommt nun Neuer, aber gerade auch Kroos als Retro-Duo zu. Der Real-Star, der seine DFB-Rückkehr und Turniernominierung im Februar selbst verkünden durfte, ist meinungsstark und sportlich auch mit 34 noch top. Aber ist er auch als Typ akzeptiert? Wie sich der Fußball-Stratege, der sich mit Nagelsmann den Berater teilt, im DFB-Zirkel bewegt, wird von vielen alten und neuen Mitstreitern genau beobachtet werden. Eine damit verbundene Schlüsselpersonalie ist Ilkay Gündogan, der leise Kapitän. Wird er auch bei der EM die schwarz-rot-goldene Spielführerbinde tragen oder geht diese doch zurück an den 37-jährigen Neuer?

Unklar ist auch noch Nagelsmanns Plan mit Bayern-Urgestein Thomas Müller als weiterer Rio-Ikone. Hat der Bundestrainer für ihn Verwendung? Auf dem Foto für die Ankündigung einer Fan-Aktion ist der 34-Jährige immerhin auf der DFB-Homepage lachend neben Nagelsmann zu sehen. Zufall oder Indiz?

Neuer und Kroos kehren in dem Moment zurück, in dem maßgebliche Protagonisten der Generation 1995/96 die Quittung für ihre seit Jahren miese DFB-Bilanz bekommen. Goretzka nicht dabei, Süle und Julian Brandt wohl auch nicht, Leroy Sané nach seiner Tätlichkeit in Wien gesperrt und Joshua Kimmich auf die Position als Außenverteidiger (straf-)versetzt. Zu allem Überfluss für die Gesamtlaune dieses Jahrgangs könnte Marc-André ter Stegen noch vor dem Frankreich-Spiel offiziell erfahren, dass Neuer als Nummer eins für die EM von Nagelsmann eingeplant ist. 

Diese Gemengelage zu managen, ist Nagelsmanns Hypothek nach seinem Fehlstart als Bundestrainer mit nur einem Sieg in vier Länderspielen. Ungewollt aktuell bleibt seine Selbsteinschätzung der Krisenlage bei der Nationalmannschaft: «Ich wusste, dass es schwierig ist, dass es eine große Aufgabe ist, aber auch eine Aufgabe, die man meistern kann.»

Von Arne Richter und Klaus Bergmann, dpa

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