Bundestrainer Julian Nagelsmann und das DFB-Team gehen mit sechs Debütanten und neuen Trikots in die ersten Länderspiele des Jahres. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Boris Roessler/dpa)

Julian Nagelsmann kam nicht in Pink daher. Die Botschaften, die der Bundestrainer exakt drei Monate vor dem EM-Anpfiff verkündete, waren aber noch knalliger als das «mutige» Turnier-Trikot in der für Fußball-Traditionalisten provokanten Bonbonfarbe.

Im schlichten schwarzen Hemd, die Hände brav gefaltet, saß der DFB-Chefcoach auf dem Podium im Frankfurter Verbandscampus und erklärte 45 Minuten lang seine radikalen Personalveränderungen so kurz vor dem großen Heimturnier.

Kein Mats Hummels. Kein Leon Goretzka. Um nur zwei prominente Streichkandidaten zu nennen. Dafür aber sechs Neulinge mit mehr oder weniger großer Bundesliga-Erfahrung für eine neue Hierarchie in der Nationalmannschaft, die eine solche Erschütterung der Mitarbeiter-Struktur im Countdown vor einer WM oder EM nie zuvor erlebt hat. «Es sind selten Mannschaften mit 20 Topstars, die erfolgreich sind», referierte Nagelsmann zu seinem Kader für die wichtigen Tests gegen EM-Titelanwärter Frankreich am 23. März in Lyon und drei Tage später in Frankfurt gegen Deutschlands ewigen Rivalen Holland.

«Junge Herausforderer» habe er gesucht. «Die Stimmungsträger sind, die diese Rolle akzeptieren», fügte der 36-Jährige an, um seinen Sixpack an Neulingen zu erklären. Aleksandar Pavlovic (FC Bayern), Waldemar Anton, Maximilian Mittelstädt, Deniz Undav (alle VfB Stuttgart), Jan-Niklas Beste (Heidenheim) und Maximilian Beier (Hoffenheim) heißen die bis vor einigen Monaten teilweise nur Insidern bekannten Spieler, die Nagelsmann auserkoren hat, um in seiner klar definierten Kaderstruktur die Rollen der ehrgeizigen, frechen, aber vor allem auch klaglosen Ergänzungsakteure zu erfüllen.

Nagelsmann will den «Reiz des Neuen» sehen

Den Alpha-Tieren Hummels und Goretzka traut Nagelsmann diese Rolle in der zweiten Reihe offensichtlich nicht zu. Deswegen sind sie erstmal raus aus dem EM-Casting. Den «Reiz des Neuen» will Nagelsmann sehen oder ein «Funkeln in den Augen». Kein Anspruchsdenken oder Reviergehabe, so der verbal nur leidlich umschiffte Vorwurf an die «tief enttäuschten» Langzeit-Internationalen, die sich nun im Liga-Endspurt doch noch empfehlen sollen. Aber wie? Wenn nicht Leistung über einen längeren Zeitraum, sondern Haltung das Kriterium ist.

Nagelsmann geht mit dieser Philosophie enorm ins Risiko. Weitere sportliche Rückschläge in Frankreich und im Heimspiel gegen Holland würden den Kurs schnell als zu radikal, zu egozentrisch erscheinen lassen. Doch Kompromisse macht der Bundestrainer nach den großen Enttäuschungen gegen die Türkei (2:3) und Österreich (0:2) ohnehin nicht. Dass die deutsche Fußball-Malaise tiefe Ursachen hat, scheint eine Erkenntnis des jungen Bundestrainers zu sein. Nicht einmal einen Hauch machte der einstige Bayern-Coach den Eindruck, dass er unbedingt auch nach dem Turnier noch Bundestrainer sein will.

Die immer häufiger aufploppenden Fragen zu seiner persönlichen Zukunft nach dem Vertragsende beim DFB nach dem EM-Projekt beantwortete er pragmatisch. Legitim sei es, mit 36 Jahren seine Karriere weiter zu planen. «Wenn ich vor der EM ein Vertragsangebot daliegen habe, mit dem ich zufrieden bin und wo ich sage, da fühle ich mich wohl und da sehe ich mich, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ich das vor der EM unterschreibe», sagte Nagelsmann.

«Die Tür ist für keinen zu»

Ein Interesse von Borussia Dortmund? Das müsse man Borussia Dortmund fragen, lautete die Antwort. Apropos BVB: Nur Niclas Füllkrug ist erneut im Kader, aber kein Hummels, Niklas Süle, Julian Brandt und Co.? Das habe nichts mit dem Verein zu tun, sondern mit «individuellen» Fällen. Generell gelte: «Die Tür ist für keinen zu», versicherte Nagelsmann. Er sagte aber auch mit Blick auf den EM-Kader, den er im Mai nominieren muss: «Ganz drehen wird es sich nicht.»

Für eine Back-up-Rolle sei der erfahrene Hummels eben nicht die Ideallösung. Im Gegensatz zu Thomas Müller, der auch in München schon ohne größeres Murren mal Reservist ist und zumindest im neuen Trikot-Werbespot eine Hauptrolle hat. «Wir müssen die am besten passenden Spieler finden», sagte Nagelsmann.

Vier VfB-Profis nominiert

Aktueller Gewinner ist der formstarke VfB Stuttgart mit vier Profis. Der VfB habe in der Bundesliga gerade «das Momentum», sagte Nagelsmann, der Newcomer Mittelstädt, vor zehn Monaten noch Reservist bei Bundesliga-Absteiger Hertha BSC, gleich zu einem der besten Linksverteidiger der Welt erkor. Datenmaterial würde das belegen. Nur so etwas Großes wie Champions League hat Mittelstädt noch nie gespielt.

Nach längerer Abwesenheit ist neben den 2014-Weltmeistern Manuel Neuer und Toni Kroos auch der Frankfurter Defensivspieler Robin Koch wieder dabei. Auch der sei einer, der im Training Gas gebe und in der Rolle als Herausforderer aufgehe. Das habe er sich von seinem ehemaligen Assistenten und heutigen Eintracht-Coach Dino Toppmöller nochmal bestätigen lassen, erzählte der Bundestrainer.

Nagelsmann hat klare Vorstellungen für seine Wunschelf. Manuel Neuer dürfte Anfang kommender Woche nach klärenden Gesprächen mit dem wieder zur Nummer zwei degradierten Marc-André ter Stegen als EM-Torwart offiziell bestätigt werden. Ter Stegen sei ein «intelligenter Spieler», der die «Dinge vorhersehen» könne, meinte Nagelsmann. Mehr musste er nicht sagen zur Torwart-Hierarchie.

Kroos auf der Sechs gesetzt

Im Abwehrzentrum davor sind Real Madrids Antonio Rüdiger und Leverkusens Jonathan Tah gesetzt. Rechter Außenverteidiger muss Joshua Kimmich spielen, links außen ist Benjamin Henrichs im Wettstreit mit Leipzig-Kollege David Raum. Auf der Sechs ist Rückkehrer Kroos gesetzt, daneben je nach Ausrichtung Pascal Groß oder Abräumer Robert Andrich.

Für die drei Zehner-Positionen sind Ilkay Gündogan, der im Hierarchie-Puzzle Kapitän bleiben darf, sowie die Jungstars Jamal Musiala und Florian Wirtz gesetzt. Ganz vorne hat Kai Havertz die besten Karten, wohl noch vor Füllkrug. Damit hat Nagelsmann eine namhafte wie vielversprechende erste Elf – und dahinter viele Neulinge, deren Augen im EM-Sommer leuchten sollen.

Der DFB-Kader

Tor: Oliver Baumann (TSG 1899 Hoffenheim), Bernd Leno (FC Fulham), Manuel Neuer (FC Bayern München), Marc-André ter Stegen (FC Barcelona)

Abwehr: Waldemar Anton (VfB Stuttgart), Jan-Niklas Beste (1. FC Heidenheim), Benjamin Henrichs (RB Leipzig), Joshua Kimmich (FC Bayern München), Robin Koch (Eintracht Frankfurt), Maximilian Mittelstädt (VfB Stuttgart), David Raum (RB Leipzig), Antonio Rüdiger (Real Madrid), Jonathan Tah (Bayer Leverkusen)

Mittelfeld: Robert Andrich (Bayer Leverkusen), Chris Führich (VfB Stuttgart), Pascal Groß (Brighton & Hove Albion), Ilkay Gündogan (FC Barcelona), Toni Kroos (Real Madrid), Jamal Musiala (FC Bayern München), Aleksandar Pavlovic (FC Bayern München), Florian Wirtz (Bayer Leverkusen)

Angriff: Maximilian Beier (TSG Hoffenheim), Niclas Füllkrug (Borussia Dortmund), Kai Havertz (FC Arsenal), Thomas Müller (FC Bayern München), Deniz Undav (VfB Stuttgart)

Von Arne Richter und Klaus Bergmann, dpa

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