Wer muss für Deutschland bei der EM spielen? Die elf Besten oder die beste Elf? An dieser Frage entzweit sich Fußball-Deutschland inmitten der laufenden Nominierung für das Heimturnier.
Im Kern der Debatte stehen Mats Hummels und Leon Goretzka. Gerade der Dortmunder Abwehr-Routinier Hummels hat mit seiner tollen Club-Form Argumente für eine Rückkehr in die DFB-Auswahl gesammelt. Julian Nagelsmann wird entscheiden müssen – beide Positionen erscheinen plausibel.
Nagelsmann muss Hummels und Goretzka für die EM nominieren!
Der Bundestrainer hat sich die Vorlage selbst gegeben. Als Nagelsmann im März drei Neulinge des VfB Stuttgart berief, begründete er das auch mit dem «Momentum» von Club und Profis – die, die konstant und erfolgreich in Bestform spielen, bekommen die Chance. Und wer Hummels in der vergangenen Woche energisch dessen Tor zum Einzug ins Champions-League-Finale bejubeln sah, kommt zwangsläufig zu dem Schluss: Das Momentum hat er, der Hummels.
Im schon betagteren Fußballer-Alter von 35 Jahren spielt der Innenverteidiger einen Frühling wie selten in seiner Karriere. Von den Fans werden Zusammenschnitte der stilvollsten Hummels-Grätschen gefeiert, der Weltmeister von 2014 hat sein Spiel längst perfekt darauf ausgerichtet, eben nicht mehr der Schnellste zu sein. Mit Auge statt im Laufduell klappte es zumindest zuletzt im Halbfinale der Königsklasse selbst gegen Kylian Mbappé.
Antonio Rüdiger und Jonathan Tah mag Hummels als Stammspieler nicht verdrängen können – Nagelsmann wird sich aber nicht darauf verlassen, mit beiden jede EM-Minute bestreiten zu können. Der formstarke Hummels scheint, wenn er sie denn annimmt, in diesem Sommer wie gemacht für die Rolle des ersten Ersatzmanns, der jederzeit aushelfen kann.
Ebenso eine Bank von der Bank kann Goretzka sein, der in den vergangenen Bayern-Wochen wieder stärker seine Qualitäten zeigte. Als erfahrener Power-Spieler hilft der 29-Jährige, wenn er in Form ist, jeder Mannschaft, insbesondere, wenn es brenzlig wird. Nebenbei gehört Goretzka zu den eher wenigen Spielern, die weit über den Fußballplatz hinausblicken und sich mit Bedacht zu gesellschaftspolitischen Themen äußern – eine Aufgabe, die in der Nationalmannschaft, die längst nicht mehr allein für das Fußballspiel steht, inzwischen auch verteilt werden muss.
Nagelsmann braucht Hummels und Goretzka bei der EM nicht!
Was war das für eine Befreiung. Erst in Lyon. Dann in Frankfurt. Gegen den großen EM-Favoriten Frankreich spielte Deutschland das beste Länderspiel seit Jahren. Dem 2:0 folgte eine taktisch und spielerische Bestätigung beim 2:1 gegen den Erzrivalen Holland. Die mit einem beträchtlichen, auch persönlichen, Risiko behafteten Personalentscheidungen von Nagelsmann hatten für die Nationalmannschaft wie ein Zündfunke gewirkt. Endlich loderte das EM-Feuer – und zwar ohne Hummels und Goretzka.
Jeder bekommt seine Aufgabe. Und erfüllt diese mit Selbstvertrauen und Elan. Mit diesem einfachen Kniff hatte der Bundestrainer auch die bleierne Schwere der letzten Jahre unter Ex-Bundestrainer Joachim Löw und dessen im DFB-Amt glücklosen Nachfolger Hansi Flick endlich vertrieben. Kein Herumeiern mehr, keine Kompromisse. Unbedingt einen Platz für Goretzka finden zu müssen, und sei es nur für die gute Stimmung, war schon ein Kardinalfehler von Flick beim WM-Desaster in Katar gewesen. Goretzkas Einwechslung aus diesem Grund gegen Japan (1:2) war der Anfang vom frühen Ende.
Natürlich waren Nagelsmanns Worte über die Teamfähigkeit des Duos eine Ohrfeige, sie konnten so interpretiert werden, dass beide den inneren Frieden der Gruppe gefährden. Und natürlich sind unzufriedene Alphatiere immer gefährlich für eine enge Gemeinschaft. Nagelsmann setzt aber nicht das Leistungsprinzip außer Kraft. Sich perfekt in eine Gruppe einordnen zu können, ist auch eine Leistung. Beides traut er Hummels und Goretzka nicht zu. Also muss er auf sie verzichten.
Selbstverständlich zeigte Goretzkas Formkurve wieder nach oben. Natürlich spielte Hummels für Dortmund überragend. Aber unter welchen Bedingungen. Sehr tief stand der BVB gegen Paris Saint-Germain. Stellungsspiel war wichtiger als Tempo. So will Nagelsmann bei der EM nicht spielen lassen. Deutschland kommt nicht aus der Rolle des Außenseiters wie Dortmund in der Champions League. Ein Hummels als Sprinter in Umschaltsituation ist nicht der Hummels als relativ statischer Stratege. Das hat Nagelsmann als aktiver Stratege erkannt.