Bundestrainer Julian Nagelsmann bereitet sein Team auf das Ungarn-Spiel vor. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Tom Weller/dpa)

Nach einer süßen Verlockung schwang sich Julian Nagelmann auf sein Mountainbike. Mit Freundin Lena Wurzenberger radelte der Bundestrainer rund um das fränkische Teamquartier der Fußball-Nationalmannschaft. Die Spritztour ins Grüne war nach der Eis-Überraschung von seinem Lieblingsfernsehkoch Tim Mälzer zum Mittagessen genau das Richtige.

Aktive Erholung, ein bisschen Zerstreuung, dann wurde der Fokus nach dem 5:1-Rausch gegen Schottland mit den Party-Fußballern Jamal Musiala und Florian Wirtz wieder auf die nächste Turnierprüfung gelegt. Die Ungarn warten. Und die schnell verzückte Fußball-Nation sehnt sich nach der Fortsetzung des lange vermissten kollektiven Glücksgefühls.

Erste Ansprache für Ungarn-Duell

Also hieß es für die schwarz-rot-goldenen Party-Fußballer heute im Home Ground Abschied nehmen von den Familien, dann Medizin- und Fitnesscheck, Athletiktraining und eine Ansprache von Nagelsmann zur Einschwörung auf das zweite Gruppenspiel am Mittwoch (18.00 Uhr/ARD/MagentaTV). Im besten Fall ist am gleichen Abend schon der Achtefinal-Einzug perfekt. Das Ticket für die K.o.-Runde nach zwei von drei Gruppenspielen fix, das gelang zuletzt beim WM-Sommermärchen vor 18 Jahren.

Dass die bei großen Turnieren schon oft misslungene zweite Prüfung nicht schiefgeht und das gerade erst begonnene Fußball-Sommer-Feeling in Stuttgart bloß nicht wieder flöten geht, darauf wollten besonders Rudi Völler und Thomas Müller achten.

Parallele zum WM-Sieg

Natürlich freute sich Müller enorm über das Tore-Festival gegen Schottland. Doch der Münchner Turnier-Routinier streute ein paar deutlich mahnende Worte ein. «Dieses Emotions-Gedusel liest sich immer ganz nett, aber es trägt dich keiner durchs Turnier. Du musst die Spiele gewinnen. Dementsprechend sind die Punkte entscheidend», sagte Müller. Der 34-Jährige erinnerte an den WM-Triumph 2014, als nach einem 2:2 gegen Ghana der Einzug in die K.o.-Runde trotz des Traumstarts gegen Portugal (4:0) auf dem Spiel stand.

Noch mehr Turniererfahrung als Müller hat beim DFB-Team nur Sportdirektor Rudi Völler. «Natürlich haben wir und viele andere auch gesehen, dass wir es nicht verlernt haben, dass wir guten Fußball spielen können», sagte der 64-Jährige. Aber: «Wir können so einen hohen Sieg auch gut einschätzen.» Ausgelassen feiern dürfen die Fans beim Public Viewing und in den Biergärten im ganzen Land. Gearbeitet wird jetzt wieder im Home Ground.

Nagelsmann liebt den Flow

Nagelsmann versteht den Spagat. Mit dem bedächtigen Völler an seiner Seite kann er sein Naturell ausleben. Und da gibt es keinen Platz für historisch oder künstlich konstruierte Bedenken. Laufen lassen, ist seine Devise im tatsächlichen wie übertragenen Sinne. «Flow» ist ein Wort, das immer wieder fällt. Das Wort, das Nagelsmann am meisten strapazierte, war aber Gemeinschaft. «Die Gemeinschaft hat das Spiel gewonnen. Die Gemeinschaft hat dafür gesorgt, dass Fußball-Deutschland vielleicht ein Stück mehr an uns glaubt», betonte er.

Unstrittig war nach der Münchner Fußball-Gala: Nagelsmann selbst ist ein großer Gewinner. Seine radikale Neuausrichtung im EM-Jahr ist aufgegangen. Der Kaderumbau, die klare Verteilung der Rollen im Team, die frühzeitige Festlegung auf eine Wunschelf und besonders die Rückholaktion von Toni Kroos haben viel bewegt. «Als Cheftrainer musst du Energie geben. Und die Mannschaft gibt mir viel Energie zurück», sagte Nagelsmann nach seinem bislang wichtigsten Sieg.

Acht Jahre ohne Sieg gegen Ungarn

Die Fortsetzung ist erwünscht. Aber Ungarn ist nach dem eigenen 1:3 zum EM-Auftakt gegen die Schweiz ein angeschlagener Kontrahent. Es spielt praktisch schon um alles oder nichts. In Erinnerung ist noch das schmerzhafte 0:1 in Leipzig vor knapp zwei Jahren, als sich das folgende WM-Desaster in Katar hätte vorausahnen lassen können. Der letzte Sieg gegen die robusten Magyaren ist schon acht Jahre her.

Gegen Ungarn muss Nagelsmann seine Strategie eigentlich nur fortsetzen. Personell gibt es keinen Anlass für Umbauarbeiten. Sofern der nach dem schottischen Rot-Foul lädierte Fuß von Ilkay Gündogan keinen Anlass zu größerer Sorge gibt, was bitter wäre. Denn für den oft kritisierten Kapitän freute sich der Bundestrainer ausdrücklich. Endlich zeigte dieser auch im Nationaltrikot sein Weltklasse-Format aus vielen Vereinsjahren. «Ich bin froh, dass ich der Bessermacher sein durfte für die Nebenleute», sagte der 33-Jährige nach seinem Leistungs- und Charakterstatement in München.

Langschläfer Wirtz

Noch besser machte Gündogan mit seiner Spielführung auch die Premieren-Torschützen Wirtz und Musiala. «Zwei Teufel auf freiem Fuß in München», nannte die spanische Zeitung «As» ehrfürchtig die beiden 21-Jährigen. Höllisch müde sei er, gestand Wirtz in einem launigen Social-Media-Video des DFB mit Musiala. Um 10.00 Uhr zu frühstücken, sei nach einer kurzen Spiel-Nacht für ihn viel zu früh. Musiala hatte in der Nacht nicht schlafen können und noch die Serie «Games of Thrones» geschaut.

Der EM-Thron. Das ist kein unrealistisches Ziel mehr. Da sind sich die lange kritischen Experten im Land wie die internationalen Beobachter einig. Wie weggeblasen sind alle Zweifel. Von Bundeskanzler Olaf Scholz bis Titel-Konkurrent Cristiano Ronaldo als TV-Zuschauer – alle waren begeistert oder auch beeindruckt vom deutschen Tore-Wirbel.

«Also nach dem Auftakt, glaube ich, kann man wirklich hoffen, dass es bis zum Schluss geht und ich bin da ganz zuversichtlich geworden», sagte Kanzler Scholz im ZDF vor der Abreise vom G7-Gipfel im italienischen Bari. «Deutschland, was für eine Maschine!», schrieb die spanische Zeitung «Marca». Der englische «Daily Star» nannte die Nagelsmann-Elf in Anspielung auf die Handvoll Tore ein «Fünf-Sterne-Deutschland». Dieser Eindruck muss gegen Ungarn bestätigt werden – und in möglichst noch fünf weiteren EM-Spielen.

Von Arne Richter und Klaus Bergmann, dpa

Von