Ilkay Gündogan (l) und Antonio Rüdiger feiern den Sieg gegen die Ungarn. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Federico Gambarini/dpa)

Im Glücksgefühl der neu entflammten Liebesbeziehung zu ihrer Fußball-Nationalmannschaft übersprangen die Fans nach der ersten EM-Party in Pink einfach mal singend vier Spiele bis zum großen Finale. Das sechs Jahre von Turnierspaß entwöhnte Publikum stimmte nach dem diesmal mehr erarbeiteten als erzauberten 2:0 gegen Ungarn in Stuttgart völlig losgelöste «Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin»-Gesänge an.

Am Tag nach dem vorzeitigen Achtelfinaleinzug wurde aber auch in der fränkischen Wohlfühloase des DFB-Trosses in Herzogenaurach in kleineren und größeren Runden eifrig über den weiteren Turnierweg diskutiert und spekuliert. Wie wichtig ist jetzt der Gruppensieg im direkten Duell mit der Schweiz? Gegen wen geht’s danach im Achtelfinale? Welcher Turnierweg ist der aussichtsreichste? Wann droht Spanien? Oder Italien?

Fragen über Fragen. Aber Grenzen im Denken werden nicht gesetzt. «Die Fans dürfen von allem träumen. Unser Job ist es, sie weiter träumen zu lassen», sagte Julian Nagelsmann, der Regisseur des Sommermärchens reloaded. Und so sehr sich selbst ein Ruhepuls-Kicker wie Toni Kroos freute, dass ganze Land stimmungsmäßig «anzuzünden», so klar war seine Botschaft vor dem Kräftemessen mit den Schweizern am Sonntag (21.00 Uhr/ARD und MagentaTV). «Ich tue mich schwer, von einem Erfolg zu sprechen, wenn man zwei Gruppenspiele gewonnen hat. Wir haben ein größeres Ziel als nur das Achtelfinale», sagte der Trophäen-Sammler von Real Madrid, dessen DFB-Comeback ein EM-Geschenk ist.

Reifen und reiten auf der Stimmungswelle

Die Puzzleteile fügen sich von Spiel zu Spiel mehr zusammen. Nagelsmann Saat geht auf. Aber das sportlich noch zarte EM-Pflänzchen muss gehegt werden und weiter wachsen. Von einem «Reifeprozess» sprach Nagelsmann, der am Donnerstagvormittag entspannt zum Spielersatztraining der Reservisten radelte. Nagelsmann setzt auf den Stimmungsfaktor, auf die Verschmelzung von Fans und Spielern zu einer Einheit und Kraftquelle. «Wir haben unfassbar erfolgreiche und erfahrene Spieler. Trotzdem macht das was mit den Spielern. Das bewegt uns», sagte Nagelsmann begeistert von der «genialen Stimmung» überall im Land.

Das von ihm durch einen radikalen Kaderumbau im März neu komponierte Teamgebilde hat ein Arbeitsklima bewirkt, in dem sich Einzelkönner entfalten können und ein verschworenes Kollektiv entsteht. Jamal Musiala spielte wieder brillant auf und erzielte sein zweites Tor. Der 21-Jährige ist auf dem besten Weg, einer der Topstars dieser EM zu werden.

X-Faktor Gündogan und Unterschiedsmacher Musiala

Kapitän Ilkay Gündogan schwärmte: «Es ist so eine Freude, mit ihm zusammenzuspielen. Er ist jemand, der das Unerwartete machen kann in jeder einzelnen Situation. Er ist ein Unterschiedsmacher für uns. Ich liebe ihn. Er ist ein kompletter Spieler. Er kann einer der Besten werden.» So sprach der Mann, der als «Man of the Match» ausgezeichnet wurde.

Gündogan überstrahlte Musiala nämlich noch, erst als robuster Vorbereiter des 1:0 dann als und Schütze des 2:0. «Ich fühle mich extrem wohl in dieser Mannschaft», sagte der 33-Jährige, der in der Spätphase seiner DFB-Karriere zum X-Faktor wird. Nagelsmann hielt ein Plädoyer für den «smarten Spieler», wie er Gündogan tituliert: «Wir müssen ihm alle mehr vertrauen im Land. Wir müssen ihn alle ein bisschen pushen, weil er uns auch pushen kann.»

Manchmal bewirken Kleinigkeiten Großes. Kroos und Gündogan nicht mehr wie früher nebeneinander im Mittelfeld anzuordnen, sondern versetzt hintereinander, entpuppt sich als genialer Nagelsmann-Schachzug. Die Strategen ergänzen sich plötzlich, befruchten sich im Zusammenspiel. «Wenn wir uns auf dem Platz anschauen, selbst für eine Millisekunde, wissen wir, was der andere denkt und vorhat in der nächsten Situation», sagte Gündogan.

Dazu kommt der Faktor Resilienz. Deutschland hat wieder eine Turniermannschaft, die Widerstandskraft aufbaut, die nach dem locker-leichten 5:1 gegen Schottland kritische Momente gegen Ungarn überstand. «In der K.o.-Runde werden die auch da sein», weiß Kroos. Torwart Manuel Neuer und die beiden Abwehrtürme Antonio Rüdiger und Jonathan Tah waren zur Stelle, wenn es hinten brannte. «Wir haben uns gewehrt. Wenn mal irgendwas nicht stabil war, dann war Manu da, war Jona da, war Antonio da», sagte Nagelsmann.

Warum Nagelsmann der Gruppensieg so wichtig ist

Der Bundestrainer aber ruht nicht. Er will mehr, viel mehr. Als Nächstes den Gruppensieg. Schon ein Unentschieden reicht dafür gegen die Schweiz. «Es hat in allererster Linie eine Wirkung nach innen, ob du Erster oder Zweiter wirst», sagte Nagelsmann. Aber es wäre auch ein weiteres Zeichen an die (Titel-)Konkurrenz. «Und der Achtelfinal-Gegner könnte kein Riesenbrocken sein», spekulierte Nagelsmann mit Blick auf den Turnierbaum.

Dortmund, Stuttgart, München – das ist der gewünschte Königsweg zum Sehnsuchtsort Berlin. Als Erster der Gruppe A würde das DFB-Team am 29. Juni auf den Zweiten der Gruppe C treffen. Sollte England erwartungsgemäß Erster werden, hieße der Gegner Dänemark, Slowenien oder Serbien. Alles machbar. Gefürchtet aber wird eh kein Gegner mehr. «Deutschland ist immer im Favoritenkreis gesetzt», tönte Neuer. Und der Stuttgarter Maximilian Mittelstädt verkündete: «Für uns ist alles drin. Wir können Großes erreichen.» Der Turnierneuling wählte da schon mal den Fanblick: Ganz weit voraus.

Von Klaus Bergmann, Arne Richter und Christoph Lother, dpa

Von