Julian Nagelsmann traibt vor dem Achtelfinale die Abwehr-Frage rum. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Federico Gambarini/dpa)

Mit freiem Oberkörper und in Schlabbershorts zielte Mats Hummels ganz genau. Doch der Basketball sprang vom Ring zu ihm zurück. Kein Treffer. Wäre Julian Nagelsmann nicht Julian Nagelsmann, würde Hummels jetzt nicht solche Urlaubsvideos posten. Er wäre vor dem Achtelfinale der Nationalmannschaft als wichtige Abwehralternative mit ganz viel Routine gesetzt.

Die Fußball-EM ist aber kein Turnier im Konjunktiv. Also steuert die DFB-Elf wegen der Sperre von Jonathan Tah und der Verletzung von Antonio Rüdiger auf ein Abwehr-Novum zu, das bei Experten und Fans für leichtes Unbehagen sorgt.

Nico Schlotterbeck, 13 Länderspiele, und Waldemar Anton, zwei Länderspiele. Gemeinsame Spielminuten: null. Sie werden am Samstag (21.00 Uhr) in Dortmund im ersten K.o.-Spiel die Innenverteidigung bilden, sofern die Muskelzerrung in Rüdigers rechtem Oberschenkel bis dahin nicht auskuriert ist. Positive Anzeichen gab es dafür am von Nagelsmann ausgerufenen Familientag im Home Ground in Herzogenaurach nicht. Pool-Spaß für EM-Profis mit ihren Familien, freiwilliges Athletiktraining für besonders emsige und das Warten auf den nächsten Kontrahenten aus Gruppe C am späten Abend waren dort das Tagesprogramm.

Wichtiger als Füllkrug-Frage

Mit der Achtelfinal-Vorbereitung gehen für Nagelsmann die Abwehrüberlegungen aber weiter. Ob Niclas Füllkrug oder Kai Havertz als Sturmspitze auf Torejagd geht, wird im Vergleich dazu fast schon zur unerheblichen Personalie. Mehr als je zuvor steht nun das bisher bestens gelungene Rollenkonzept des Bundestrainers auf dem Prüfstand.

DFB-Geschäftsführer Andreas Rettig flüchtete sich bei dem Thema schon ausweichend in lustig gemeinte Phrasen: «So wie ich den Kader vor Augen habe, würden wir trotzdem mit elf spielen und zwei andere aufstellen», sagte er zu Tah-Sperre und Rüdiger-Blessur.

Etwas ernster ist die Lage schon: Zwei junge, unerfahrene Backups auf zentralen Positionen. Das war das Szenario, das Pessimisten bei Nagelsmanns Kaderbildung vorgefühlt hatten. Doch der Bundestrainer gibt sich cool. Sein Kurs steht. Es gab schließlich gute Gründe, Hummels nicht zu nominieren. «Wir haben Vertrauen in den ganzen Kader», lautet einer der Standardsätze des Bundestrainers.

Vertrauen in Schlotterbeck und Anton

Letztmals sagte er ihn, als vorerst nur ein Ersatzmann für den nach der zweiten Gelben Karte gesperrten Tah gesucht wurde. Rüdigers Diagnose stand noch aus. Schlotterbeck oder Anton, war die Frage. «Beide haben da ein Duell. Wir konnten nicht beide heute bringen. Beide haben es verdient, weil sie es gut machen im Training», sagte Nagelsmann nach dem 1:1 gegen die Schweiz, bei dem Schlotterbeck für Tah «ein paar Minuten» sammeln durfte.

Nun könnte die Antwort lauten: Schlotterbeck und Anton. Und das hat fast schon wieder Charme. Denn Dortmund ist der Spielort. Es ist Schlotterbecks Fußball-Heimat. Und wenn man den Transfer-News Glauben schenken darf, Antons zukünftige. Der heißbegehrte Stuttgarter soll sich für die Borussia als künftigen Club entschieden haben. Einspielen für künftige BVB-Aufgaben im Nationaltrikot vor der Südtribüne, sozusagen. Ein Dortmunder Signal für die Zukunft mit dem Ex-Borussen Hummels nur noch als Strandurlauber.

Das ist die folkloristische Sichtweise. Die faktische ist, dass beide noch nie nebeneinander gespielt haben. Und das auf der Position im Abwehrzentrum, die wie keine andere Automatismen und Absprachen bedarf. «Das ist als Innenverteidiger nicht einfach, denn ein Duo muss sich erst finden. Da muss die Abstimmung stimmen», sagte Ex-Weltmeister und TV-Experte Shkodran Mustafi.

Praktisch keine Turniererfahrung

Realität ist auch, dass es in der jüngeren deutschen Turniergeschichte noch kein unerfahreneres Duo gegeben hat. Anton steht vor seiner Turnierpremiere. Schlotterbeck stand bei großen Turnieren nur beim missglückten WM-Start 2022 gegen Japan (1:2) in der Startelf. Danach zog Ex-Bundestrainer Hansi Flick damals lieber Niklas Süle – einen anderen Dortmunder – in die Zentrale.

Einzelausfälle von Abwehrchefs hat es in der DFB-Turniergeschichte immer wieder gegeben. Auf dem Weg zum letzten EM-Sieg 1996 in England verletzte sich Jürgen Kohler gleich im ersten Spiel gegen Tschechien nach wenige Minuten. Ersatzmann Markus Babbel war nach zwei Gelben Karten schnell gesperrt. Bundestrainer Berti Vogts musste viel rotieren.

Hummels war als eingespielter Nebenmann von Weltmeister-Kollege Jérôme Boateng im EM-Halbfinale 2016 gesperrt. Damals fiel sein Fehlen beim 0:2 gegen Frankreich noch wirklich ins Gewicht.

Von Arne Richter und Klaus Bergmann, dpa

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